Der gemeinsame Nenner

Über Verständnis und Verständigung in der Pferdearbeit

Fast jedes Wochenende begegnen uns in unseren Kursen die unterschiedlichsten Pferde-Menschen-Paare. Alle bringen ihren eigenen glücklichen und unglücklichen, lustigen und traurigen, seltsamen und ganz normalen Geschichten mit.

Alle – und hier sind erstmal nur die Menschen gemeint – kommen mit ihren eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Wünschen und eben auch Erwartungen. Manche von ihnen sind ganz unbedarft, wollen „nur“ ein intensives Wochenende mit ihrem Pferd verbringen, die Kommunikation zu ihrem geliebten Vierbeiner verbessern oder einfach mal rein schnuppern in die freie Bodenarbeit. Bei anderen Teilnehmern gibt es ein paar Probleme in dem gemeinsamen Zusammensein, bei denen sie sich Unterstützung wünschen. Wiederum andere sind schon erfahren in der Freiarbeit und wollen mehr. Mehr Input, mehr Ideen, mehr Inspiration.
Aber eines verbindet alle Teilnehmer: sie alle lieben ihr Pferd, möchten so pferdegerecht wie möglich trainieren und erwarten jeder jeweils auf seine Weise eine Besserung durch diesen Kurs.

Wenn sich die Pferde an einem solchen Wochenende etwas wünschen würden, wäre das etwas ganz Anderes – lebend aus dem Anhänger zu steigen, einen sicheren Platz zum Fressen und Schlafen und Artgenossen um sich zu haben. Aber Erwartungen an zwei gemeinsame Tage haben sie keine.
Pferde leben im Hier und Jetzt.

Es gibt also zunächst einmal keinen gemeinsamen Nenner für die Wünsche von Mensch und Pferd. Trotzdem ist an diesen Kursen so gar nichts verwerflich. Sofern, ja sofern sich der Pferdebesitzer darüber im Klaren ist, dass er zwar Wünsche, aber eben keine Erwartungen haben sollte.

Ein ganz normaler Kurs-Samstag, 10:30 Uhr:

Anja hat kürzlich ganz überraschend ein Pferd geschenkt bekommen. Eine junge Stute namens Bella, die eigentlich in den Turniersport gehen sollte. Eigentlich, denn eine Knochenzyste wurde diesem Plan zum Verhängnis. Anja wollte in unserem Kurs Bella einfach besser kennenlernen. Das war ihr einziger Wunsch. Bella, ein Vollblüter, war in der Freiarbeit schnell unterwegs, am Anfang meistens viel alleine. Aber mit der Zeit kam sie wieder, immer öfter, immer schneller. Und über jedes Wiederkommen von Bella freute sich Anja so sehr, dass sie im wahrsten Sinne strahlte. Und je mehr Anja strahlte, desto lieber blieb Bella.

Clara, eine andere Teilnehmerin, hat bereits Erfahrungen in der Freiarbeit und kann zu Hause schon toll mit ihrem Pferd Charly frei kommunizieren. Sie ist auf der Suche nach neuen Ideen und erwartet viel von diesem Kurs. Ihre Einheit mit Charly beginnt, aber es läuft alles anders als geplant. Überwältigt von der neuen Umgebung, hingerissen von den vielen Gerüchen auf dem Hallenboden hat Charly ganz eigene Vorstellungen. Aufgeregt und interessiert erkundet er die Halle und nimmt Clara nicht wirklich wahr. Nichts von dem, was Clara uns zu Beginn zeigen möchte, klappt so, wie sie es sich vorstellt. Clara verspannt sich. Sie wird ärgerlich, ihre Stimme laut, ihre Bewegung immer wütender, der Groll auf ihren eigentlich so geliebten Charly größer – klappt es zu Hause doch alles so wunderbar. Wir müssen die Einheit abbrechen, da die Emotionen überschwappen. Charly hat Claras Erwartungen innerhalb von 2 Minuten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Erwartungen, die – warum auch immer – in diesem Moment nicht erfüllt werden können.
Unerfüllte Erwartungen führen zu Frustration. Dass diese in der Pferdearbeit nicht gerade förderlich ist, wissen wir alle, denn kein Pferd lässt sich freiwillig auf einen Menschen ein, der randvoll mit negativen  Emotionen ist.

Und dann ist da noch Judith. Sie hat seit fünf Jahren ihre Trakehner-Stute Donna. Sie beschreibt Donna als unberechenbar, launisch und explosiv in neuer Umgebung. Judith ist schon vor Beginn der Einheit angespannt. Unsicher kommen sie in die Halle, Donna gibt Gas und reißt sich beinahe los. Donna ist nervös und unsicher, weil Judith ihr nicht genügend Sicherheit geben kann. Und Judith hat, wie viele andere auch, Angst, etwas Falsches zu tun und so die Beziehung zu Donna aufs Spiel zu setzen. Judith lernt von außen betrachtet in diesen zwei Tagen keine „neuen Lektionen“. Aber sie lernt etwas viel Wichtigeres: sich ehrlich, authentisch zu behaupten. Sicherheit nicht nur auszustrahlen, sondern wirklich zu geben, um somit schlussendlich eine gute Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu schaffen.

Wir könnten diese Beispiele endlos fortsetzen. Jede dieser Geschichten ist für uns spannend und wir schauen genau, wie wir helfen, unterstützen, verfeinern und voranbringen können. Wir arbeiten daher nicht nach einem starren Kurskonzept. Es geht uns darum, dem Menschen zu helfen, ein besseres Verständnis für sein Pferd zu bekommen. Manchmal geht es dabei einfach um zu viel Nähe und zu wenig Distanz, um winzige Dominanzgebaren des Pferdes, die der Mensch übersieht. Manchmal geht es einfach um mehr Geduld und etwas weniger Energie oder darum das eigene Ego und die Hilflosigkeit, wenn die Frustration einen überrollt. Manchmal vermitteln wir auch einen anderen Lösungsansatz, damit die gewünschte Lektion endlich gelingt oder müssen die Komfortzone von Mensch und Pferd erweitern, damit sich etwas ändert. Vor allen Dingen aber geht es uns um eine authentische, aufmerksame und von Verständnis geprägte Herangehensweise an die Arbeit mit dem Pferd, bei der sich der Pferdebesitzer über sein Pferd und jeden noch so kleinen gemeinsamen Fortschritt freut.

Aber was ist denn jetzt mit unserem gemeinsamen Nenner?

In dem Moment, in dem wir ein Pferd mit seinen Reaktionen als bloße Reaktion auf seine Umwelt und uns wahrnehmen, können wir wieder lösungsorientiert arbeiten. Ein Pferd täuscht nichts vor. Es ist weder zickig noch möchte es uns vorführen oder uns gerne auf der Nase herumtanzen. Eine solche Denkweise gibt es unter Pferden nicht.
Ein Pferd reagiert auf Reize, aus Erfahrungen oder um etwas auszuprobieren – in der Hoffnung auf Komfort oder im Extremfall in der Hoffnung auf das nackte Überleben. Letztendlich bleibt der Wunsch nach Harmonie, der uns und auch unsere Pferde antreibt. Er treibt uns an, jeden Tag dazuzulernen, feiner, genauer zu werden und besser hinzusehen und zu verstehen. Harmonie mit unserem Pferd bedeutet, dass es Regeln und Grenzen gibt, dass man sie sich manchmal hart erarbeiten muss und sie schnell auch wieder verflogen sein
kann. Respektieren wir die Natur unseres Pferdes und bleiben flexibel in unserem Handeln, könnten wir in Situationen, wie bei Clara und Charly, besser und gelassener reagieren. Daher gilt es, Reaktionen nicht unmittelbar persönlich zu nehmen oder gar gekränkt zu sein.

Und übrigens: Pferde lieben es, wenn wir uns aus tiefstem Herzen und ganz ehrlich über sie freuen. Sie bewundern, schön, stolz und intelligent finden. Die tiefe, ehrliche Freude über eine z.B. erarbeitete Lektion
hat einen enormen Einfluss auf das Lernen und die Lernatmosphäre – und somit hat sie auch einen entsprechend tollen Effekt. In dem Moment, wo wir ganz ehrlich bei uns und unserem Pferd sind, sind wir im Hier und Jetzt. Da sind wir hochkonzentriert und sehen wirklich jede kleinste Tendenz in die richtige Richtung. Das ist ein wahrer Grund zur Freude.
Es ist ein echter Grund, unserem Pferd zu vermitteln, dass es ganz und gar großartig ist. Ist es doch jedes Mal ein kleines Wunder bei zwei Individuen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
In diesem Sinne: Freut euch des Lebens!